Literaturpreis Ruhrgebiet

Laudatio anlässlich der Verleihung des Literaturpreises Ruhrgebiet an Karr & Wehner
Gehalten am 17.11.2000, Haus Opherdicke, Holzwickede
Redemanuskript / Veröffentlichung mit Einverständnis des Autors

Endlich so wie überall: Das darf doch nicht wahr sein!
Der Literaturpreis Ruhrgebiet 2000 - Eine Laudatio auf vier Preisträger
Von JENS DIRKSEN

Die beiden Förderpreise zum Literaturpreis Ruhrgebiet gehen den Rhein runter und die Spree rauf. Laabs Kowalski aus Köln und Tanja Dückers aus Berlin haben die zwei Erzählungen geschrieben, die zwar im Ruhrgebiet spielen - aber eben in jenen Gefilden Seite des Reviers, die vielleicht am besten mit dem Titel einer guten Essener Fotoausstellung in den 80-er Jahren benannt werden kann: "Endlich so wie überall".

Wir müssen also energisch dementieren, dass Laabs Kowalski den Förderpreis wegen seines äußerst lokalkoloritverdächtigen Namens bekommen hätte. Oder weil seine Story "Rubine und Erbsen" dort endet, wo für viele von uns das heimliche Herz des Reviers schlägt: In einer Bude. Bei Kowalski kommt die Bude oder das Büdchen nämlich schon einigermaßen hochtrabend als "Kiosk" daher, also ebenfalls: "Endlich so wie überall".

Nein, Laabs Kowalski hat den Preis für "Rubine und Erbsen" bekommen, weil diese wunderbar ironische Erzählung im dröhnenden Tonfall des jungen Bukowski die Jury auf Anhieb überzeugt hat - gegen mehr als 150 Konkurrenten, nebenbei bemerkt. Souverän spiegelt Kowalskis Story das vorgegebene Thema Liebe - Leib - Leistung von zwei Seiten. Da ist, zum einen, Peevee, der so gut wie abgebrochene Student, ein echter Flipperfreak und ein Frust-Analytiker ohne Gnade mit sich selbst: Er weiß, dass er nie den richtigen, ersehnten weiblichen Leib zur Liebe finden wird. Denn er ist nach den Maßstäben der Leistungsgesellschaft ein Versager mit Mietschulden und wird einer bleiben, bis uns doch noch der Himmel auf den Kopf fällt. Und da ist, auf der anderen Seite, ein kleiner "sechsjähriger Gangster", der sich Bonbons und ein großes Eis leisten kann, weil er eben jenen Peevee mit dem Verdacht erpresst, er hege eine perverse Liebe zu Kinderleibern. Laabs Kowalski macht das pointiert und literarisch gekonnt. Außerdem kann man bei ihm auch so schöne Schimpfwörter wie "Vollzeittrottel" lernen...

Vollzeit-Gewinner sind hingegen das Fach von Tanja Dückers: Ihre dunkelschimmernde Erzählung "Der Marmorkuchen" spielt die Liebe in Zeiten der Leistungsgesellschaft an zwei Erfolgsmenschen durch. Wir lernen: Wer an der Spitze eines Pharma-Unternehmens alles unter Kontrolle bringt und zuhause sowieso, dem fehlt zur vollkommenen Macht nur noch die über das Leben eines anderen Menschen. "Der Marmorkuchen" ist eine Geschichte von der mörderischen Liebe zur Leistung. Eine Geschichte, die ihren Witz, ja ihren Aha-Effekt aus der Umkehrung des herkömmlichen Rollenschemas zieht: Sie, die Managerin, bestimmt, wann Urlaub gemacht wird - er, der Sekretär, muss daheim in der Villa nach oben, wenn er mal Fußball gucken will... Dass das Opfer am Ende einverstanden ist mit seinem Ende und sich von vornherein die Kuchenkrümel vorgestellt hat, die noch am tödlichen Messer kleben würden, das macht diese Erzählung von Tanja Dückers doppelt unheimlich, man könnte auch sagen: zu Literatur. Oder auch: Literaturpreiswert.

Und da jetzt gerade ohnehin schon von mörderischen Umständen die Rede war, sollten wir umstandslos zu den Hauptpreis-Trägern kommen. Sie sind übrigens auch ein Beweis dafür, dass man dort, wo man früher Kohle gefördert hat, heute etwas von Literaturförderung versteht: Karr & Wehner haben bekanntlich zweimal jenen Förderpreis bekommen, den der Kommunalverband Ruhrgebiet gerade wieder vergeben hat.

Meine erste Begegnung mit Gonzo Gonschorek, dem Helden vierer Karr &Wehner-Romane, war ein Fall von nordrhein-westfälischem Multikulti: Der gebürtige und praktizierende Niederrheiner, der ich war, las in der Westfalen-Metropole Münster völlig gefesselt den ersten Gonzo-Krimi, den "Geierfrühling". Mordsmäßiges Staunen: Gerade war uns Kriminalkommissar Horst Schimanski Jacke wie Hose geworden, da stand auf einmal Essen im Hemd da - und sah nicht einmal besonders sexy aus: alte Penner, neue Nazis, Schwarze Scheriffs, Rauschgiftsüchtige, später dann auch Straßenkinder, Immobilienhaie, der Babystrich, Russenmafia, Drogenhändler, Pornoproduzenten und Auftragskiller. Mal ganz abgesehen von den Gänsereitern, die ja schon seit dem Mittelalter den Brutalitätspegel an der Ruhr auf beachlichem Niveau halten.

Und mittendrin auch noch dieser widerliche Videogeier Gonzo Gonschorek, ständig mit seiner Kamera namens Suzie unterwegs auf der Suche nach Unfallspektakeln und übel zugerichteten Leichen. Chicago mal Bronx hoch Manhattan am Ruhrschleichweg, Typen wie Sam Spade in den Straßenschluchten von Sprockhövel und Philipp Marlowe macht keine Fisimatenten in Fischlaken. Das alles beinhart und ungefähr so abgekocht wie bei den Altvätern Dashiell Hammett und Raymond Chandler. In einer Perfektion, die zum Aufstieg in die Krimi-Bundesliga allemal reichte; vielleicht muss man, angesichts des Reviers als Dauer-Bewerber, wenigstens auf diese Felde sogar mal von Olympiareife reden.

Und schon drängte sich, schon drängte das wirkliche Ruhrgebiet uns angesichts der geballten Schwärze die Frage auf: "Ja, kann das denn wahr sein?" Als Niederrheiner aber, der ja bekanntlich nix weiß, aber alles erklären kann, erkläre ich hiermit: Was immer auch in diesen vier Gonzo-Romanen steht, ist wahr. Und wenn die Autoren noch so oft beteuern, "Handlung und Personen" seien "frei erfunden" - glauben Sie diesen Unschuldsbeteuerungen nicht. Es ist alles nur zu wahr!

Wahr ist zum Beispiel, dass man hier mit dem Fachterminus "Bottroper Schlachtplatte" in gewissen Spezialbetrieben des Gaststättengewerbes eine Currywurst an Pommes bestellt. Wahr ist aber auch, dass es im Revier gar nicht "datt" und "watt" hagelt wie früher die berüchtigten Briketts, sondern dass hier ein Kauderwelsch herrscht, das sich frei flottierend zwischen Herbert Knebel und Oberkanzleirat bewegt, manchmal sogar genau in der Mitte landet: "Die beiden sind geschieden", sagt da zum Beipiel im "Bullenwinter" einer namens Endrulat, "und der Typ macht Streß wegen des Umgangsrechts für seinen Jungen." Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: "Wegen des Umgangsrechts"! Selbst der Duden sagt ja schon "Wegen dem Umgangsrecht!" Die Gesellschaft zur Rettung des Genetivs in der deutschen Sprache spendet hier jedenfalls stehende Ovationen. Und wer dagegen einwendet, es heiße doch "wegen dem sein Umgangsrecht", der setzt sich mittlerweile auch im Revier dem Verdacht aus, den Schuss wohl nicht ganz gehört zu haben.

Wahr ist, um jetzt mal zum wirklich kriminellen Geschehen zurückzukommen, wahr ist auch, dass es zwischen Duisburg und Dortmund ebenso gewaltige wie undurchsichtige Immobilienschiebereien gibt, und dass Politiker den Strippenziehern und Gangstern beim Schieben zur Hand gehen, um diese Hand denn auch weit offen zu halten und trotzdem auf freiem Fuß zu bleiben. Den notorischen Lokalteillesern unter uns werden auf Anhieb zwei bis ungefähr siebzehen Namen einfallen, und die kann ich deshalb jetzt alle verschweigen. Anwesende sind von diesem Generalverdacht selbstverständlich ausgenommen.
Wahr ist übrigens auch, dass Nachrichtenjäger zwischen Dortmund und Duisburg seit Mitte der achtziger Jahre, seit Zulassung des Privatfernsehens, auf der alten B1 ihre Reifebprofile polieren und, immer auf der Suche nach ein paar Spritzern Frischblut, den Polizeifunk für eine Art berufsspezifischen Verkehrshinweis halten; wahr ist, dass es staatliche Sondereinsatzkommandos mit dubiosen Praktiken gibt - und hin und wieder eine ehrliche Haut unter den Polizisten, von denen manche belastet und viele überlastet sind. Und wahr ist sogar, dass es so verkommene, versoffene, verrauchte und verbrauchte Journalisten gibt wie in den Gonzo-Romanen (auch wenn sich an dieser Stelle die zarte Stimme der Berufsehre in mir meldet und behauptet: "Aber wir sind doch wirklich nicht alle so!").

Nein, Karr & Wehner sind ja auch nicht so. Aber sie tun so: Sie spielen die mögliche Wahrheit mit Kulissen und Komparsen aus der vertrauten Wirklichkeit durch. Trotzdem sagt keiner: "Huch, das sind ja wir!" Denn der Mörder ist immer der andere. Es ist ja wahr, keiner von uns ist ein Mörder. Aber die Mörder sind immer unter uns. Karr & Wehner indes gucken nicht nur auf die Mörder, sondern auf das Drumherum. Und weil uns das so bekannt vorkommt, sind wir unversehens dann doch mit im Spiel. In diesem Spiel namens Literatur geht es immer um die Wahrheit hinter der Wirklichkeit, und deshalb wird man in den Krimis von Karr & Wehner auch schwerlich einen Fall von fortgesetzter Pottbeschmutzung sehen können.

Denn in der Szenerie der Romane und auch der über 40 Geschichten von Karr & Wehner (jetzt mal ganz abgesehen von dem dreckigen Dutzend Hörspiele) spiegelt sich bundesdeutsche Wirklichkeit. Das Revier, so sagt ja auch der Essener Krimi-Professor Jochen Vogt, ist längst das Versuchslabor der Republik: "Endlich so wie überall". In der Tat: Das Ruhrgebiet von Karr & Wehner ist letzten Endes nur ein Brennglas, das die Wirklichkeit bündelt, bis sie uns juckt. Zugegeben: Die beiden gehen manchmal mit zehn Lupen gleichzeitig auf die Wirklichkeit los und scheinen dadurch die Verhältnisse etwas zu verzerren. Aber: Karr & Wehner entstellen die Verhältnisse bloß zu Kenntlichkeit. Denn wer Ohren hat zu hören, der erkennt das untergründige Leitmotiv der beiden, das in unseren Tagen nicht einmal mehr die Tauben pfeifen, aber das wir doch gerne hören: das Wissen nämlich, dass eine andere, eine bessere Welt denkbar bleibt als die Gonzo-Welt, als die bestehende. Wenn aber trotzdem das Verbrechen wirklich und die Wirklichkeit das eigentliche Verbrechen ist, dann heißt die durch und durch humane, ja humanistische Melodie auf unsere Wirklichkeit, die bei Karr & Wehner eben auch zu vernehmen ist. Und die lautet: "Das darf doch nicht wahr sein!" Mit Blick auf koksende Nationaltraineraspiranten und munter sinkende Giftmüllfrachter auf den Weltmeeren heißt auch das für das Revier von heute: "Endlich so wie überall!

Wie weit wir uns vom alten Revier entfernt haben, zeigt auch dieser Literaturpreis: Der Kommunalverband Ruhrgebiet ist immerhin souverän genug, ihn an kritische Geister "vor Ort", wie man früher sagte, zu vergeben, an Heimatliteraten der anderen Art. Dahinter steckt natürlich auch das Wissen: Man kritisiert ja doch nur, was einem wirklich am Herzen liegt.

Mir indes liegt noch am Herzen, darauf hinzuweisen, dass der Preis diesmal auf Bewährung verliehen wird. Auch wenn er das Gesamtwerk der Autoren ehren und preisen soll, halten wir dieses Gesamtwerk nicht für abgeschlossen. Auf gut Deutsch: Wir wollen weiter Geschichten von Karr & Wehner.

Bewährt hat sich, Karr & Wehner sind dafür die beste Beweiskette, auch der Literaturpreis Ruhrgebiet. Aber er hat sich seit 15 Jahren nicht weiter entwickelt, was die Währung anbetrifft. Von daher sei einem scheidenden Jury-Mitglied hier eine letzte Bitte gestattet: Der Kommunalverband Ruhrgebiet, finde ich, sollte sich bei der anstehenden Währungs-Umstellung die Umrechnerei sparen und das Preisgeld in Euro auszahlen, ohne an den Zahlen etwas zu ändern. Das würde höchstens die Preisträger des Jahres 2000 kriminal ärgern. Alle anderen würden gewiss sagen, was ich jetzt sage: Das darf doch wohl wahr sein.