Geierfrühling

Ein Gonzo-Krimi

Worum geht es?

"Gonzo" Gonschorek, Anfang vierzig, lebt als selbständiger Videokameramann im Ruhrgebiet. Er beliefert seine Stammkunden bei den privaten und öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten mit den Bildern der alltäglichen Sensationen: Verkehrsunfälle, Brände, Polizeieinsätze. Wenn er nicht gerade für einen Kamerajob bei einem Sender engagiert ist, fährt Gonzo mit seinem Kombi abends und nachts durch die Stadt und läßt sich von Polizei- und Feuerwehrfunk von einem Schauplatz zum anderen treiben.

Bei seiner Tätigkeit hat Gonzo eine professionelle Distanz zu den Objekten seiner Berichterstattung entwickelt, die nur selten durchbrochen wird.

Gonzo lebt allein in einem Wohnbüro-Loft in der ersten Etage eines Hinterhauses in Essen-Altenessen. Hier hat er seine Videotechnik aufgebaut, die er aus der Firma retten konnte, die er vorher mit einem Kompagnon betrieb. Der wüste, mit Sperrmüllmöbeln eingerichtete Privatbereich des Lofts spiegelt sein Privatleben wieder.

Die Geschichte beginnt mit ein paar Aufnahmen eines Penners, die Gonzo fürs Regionalfernsehen am Essener Hauptbahnhof dreht. Er sieht dabei, wie die polnische Prostituierte DANA mit GORNY, einem Angestellten des privaten Bahnhofssicherheitsdienstes in Streit gerät. Gonzo nimmt Dana mit, doch statt Sex gibt es einen Überfall: Dana setzt ihn mit Reizgas außer Gefecht und macht sich mit Gonzos zweiter Kamera davon.

Wenig später kann Gonzo eine Polizeiaktion am Bahnhof drehen: Gorny ist erschlagen worden. Für Hauptkommissar BEHRENDT von der Mordkommission und Gornys Kollegen ist aufgrund der Indizien klar, daß Dana Gorny umgebracht hat. Nur Gonzo kann auch einigen Hinweisen schließen, daß der Penner, den er gefilmt hat, der Mörder ist. Gonzo macht sich auf die Suche nach Dana und den Penner.

Wie fängt es an?

Erstes Kapitel

Die Sache mit der Krücke war reiner Bluff. Gonzo beobachtete den Bahnhofspenner nun schon eine ganze Weile, wie er in dem naßkalten Wind an der Umfassung des U-Bahn-Niederganges auf der Bahnhofsplatte hockte. Ging einer vorbei, der nach Geld oder Mitleid aussah, stocherte der Alte mit der Metallstange hilflos über den glatten Granit und kam und kam nicht in die Höhe.

Der Tragegurt mit der schweren Videokamera zerrte an Gonzos Schulter. Ein Trupp tätowierter Glatzen fuhr gröhlend die Rolltreppe vom Basement des Bahnhofs herauf. Der Krückenpenner fiel in sich zusammen und spielte toter Mann, bis die Rotte im Bahnhof verschwand. Der Himmel über den Plexiglaskuppeln des Vorplatzes schimmerte grau. Der frische Märzwind trieb leere Bierdosen und zerknüllte Zeitungen zwischen den Streunern und Herumtreibern auf den Betonpollern hin und her.

Gonzo lief schon seit Tagen die Nase. Den Schnupfen hatte er sich in der letzten Woche bei dem Dreh für "Es wird Frühling im Revier" eingefangen, bei dem ihn so ein junger Schnösel vom Dortmunder WDR-Studio für ein paar Schnittbilder stundenlang durch die Botanik und über die Friedhöfe gejagt hatte. Aber immerhin hatte ihm der Job die Miete hereingebracht.

Danach herrschte erst einmal Flaute mit festen Aufträgen. Tagelang hing Gonzo nur am Funkgerät rum und wartete auf die Einsatzmeldungen von Polizei und Feuerwehr. Er bekam einen mittleren Brand mit Chemiewolke im Stadthafen und ein paar schöne schwere Unfälle auf dem Ruhrschnellweg. Mit dem Discocrash aus der letzten Samstagnacht stieß er sogar bei einer der Privatanstalten bis in die ersten Abendnachrichten vor, Abteilung Blut und Tränen, Headline: Sie tanzten in den Morgen und rasten in den Tod.

Heute früh dann der Anruf von Herbert. Herbert war Redakteur beim Regionalfenster eines Privatsenders. "Ich brauch einen Penner."

"Frag mal bei der Stadtverwaltung."

Es ging um irgendeine Statistik. Im Stadtgebiet von Essen lebten fast 5.000 nichtseßhafte Personen. "Schieß mir einen davon ab und bring mir das Band bis zwei", orderte Herbert. Er bot dreihundert Mark, und Gonzo hatte angenommen, weil er sowieso zum Postgiroamt am Bahnhof mußte, um die Sache mit seinem Dispo-Kredit zu regeln.

Gonzo machte die Suzie drehfertig und pirschte sich an den Penner heran. Prompt schoß ihm die Krücke vor die Füße. Der Typ steckte in einem speckigen alten Mantel, hatte sich seit drei Tagen nicht rasiert und nur noch ein paar Zähne im Mund. Gonzo blieb stehen.

"Ich brauch Hilfe, Chef, sehn se datt nich?"

Gonzo holte die Flasche Wodka heraus, die er sich vorhin noch schnell in einem Supermarkt besorgt hatte. "Ich hätt einen Job für dich."

Der Penner stierte auf die Flasche. "He Chef, wen soll ich kaltmachen?" Mit der Zunge leckte er sich über die Lippen. Dann erst schien er die Suzie zu entdecken. "Oder bist du'n Perverser? Die Stricher stehn da vorne, bei den Polennutten." Er zeigte fahrig zur Bahnhofshalle hinüber, wo eine Frau schon seit zehn Minuten den Fahrplan studierte. Sie trug eine dicke schwarze Lederjacke mit einem babyrosa Halstuch, rote Leggings und einen Minirock aus verwaschenem Jeansstoff. Gonzo hatte schon überlegt, ob er sie nach dem Dreh nicht mitnehmen sollte, damit der Nachmittag nicht zu langweilig wurde.

Der Berber fuhr sich mit den dreckigen Fingern durchs Haar und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Sein Blick klebte an der Wodkaflasche. Gonzo erklärte ihm, was er haben wollte. Der Penner rappelte sich ganz fix und ganz ohne Krücke hoch. Gonzo setzte die Suzie an und zog die Schärfe nach. "Also, los geht's!"

Der Alte schlurfte durch die Bahnhofshalle, an den Strichern neben dem Fahrkartenautomaten vorbei. Vor dem Supermarkt blieb er stehen und glotzte durchs Schaufenster. Das Bild war ganz brauchbar. Auf dem Rückweg zum Nordausgang machte er an einem Abfallkorb Halt. Er kramte einen angebissenen Hamburger heraus und stopfte ihn sich in den Mund. Der Typ war ein Naturtalent. Gonzo schwenkte über die vorbeihastenden Passanten. An der Marmorfassade der Valutabank im Durchgang zum Busbahnhof lehnten ein paar Gestalten mit engen Lederhosen, langen Haaren und zerfallenen Gesichtern. Ein Schäferhund mit einem geblümten Halstuch schlief neben ihnen auf dem Boden zwischen leeren Schnapsflaschen, Zigarettenkippen und Hamburgerverpackungen.

Der Penner tappte mit seiner Krücke am Bahnhofsbuchladen und der Frau am Fahrplan vorbei zu seinem Stammplatz zurück. Gonzo blieb mit der Kamera bei der Frau und zoomte ihr Gesicht heran. Die Augen zwei blaue Glanzsteine, die Backenknochen hochgezogen, die Haut fast weiß. Die blutrot geschminkten Lippen leicht geöffnet über dem babyrosa Halstuch im Jackenausschnitt. Gonzo war sich jetzt sicher, daß er sie mitnehmen würde.

Dann versperrte ein Kerl in schwarzer Lederjacke und mit einem Barett auf dem Kopf die Sicht. Sicherheitsdienst im Auftrag der Bundesbahn. Der Sheriff langte der Frau in die Jackentasche, sie stieß ihn zurück und schrie etwas auf polnisch. Gonzo behielt sie im Ausschnitt. Das Band lief weiter. Der Sheriff versetzte der Frau einen Schlag vor die Schulter, sie taumelte an die Wand und trat nach dem Mann. Der holte mit der rechten Hand aus, aber sie tauchte unter seiner Bewegung weg, so daß er nur ihr Halstuch zu fassen bekam. Die Frau rannte unter die Platte vorm Südausgang davon. Der Uniformierte blieb mit dem Halstuch in der Hand zurück.

"Gorny, die Sau!" knurrte der Penner auf einmal hinter Gonzo. "Der kassiert von jedem hier Standgeld."

Gonzo setzte die Suzie ab. Der Sheriff stand vorm Fahrplan und redete in sein Walkie-Talkie, das rosa Tuch in der anderen Hand. Gonzo zog die Nase hoch und spuckte aus. Dann drückte er dem Berber den Wodka in die Hand. "Starker Auftritt, Alter."

Der Penner starrte die Flasche ein paar Sekunden glücklich an, dann kramte er einen Bleistiftstummel aus der Manteltasche und malte zwei dicke Striche oben und unten aufs Etikett. "Auffen Millimeter!" nuschelte er. "So`n guten Stoff mußte dir einteilen." Er schraubte die Flasche auf und setzte sie an. Als er sie wieder herunternahm, war der Pegel exakt bis zum ersten Strich gesunken. "Die reicht glatt drei Stunden!"

"Na dann schönen Tag noch!" sagte Gonzo.

* * *

Sie stand drüben an der Bushaltestelle vor den handgemalten Schildern für die Verbindung nach Warschau. Gonzo sah sie, als er die Suzie in den Kombi zu der Reservekamera lud. Er holte die Kassette mit dem Berber heraus, legte ein Leerband ein und schob einen frischen Akku in den Schacht. Allzeit bereit.

"Gonschorek Videoproduktion?"

Sie war herübergekommen und las die Aufschrift auf dem Wagen. Ihr polnischer Akzent klang grauenhaft. Ihre Lederjacke fiel scheinbar zufällig auseinander. Darunter hatte sie nur ein Hemd an. Durch den Stoff zeichneten sich große dunkle Brustwarzen ab. Gonzo schluckte. Sie zeigte mit dem Finger auf die Schrift am Wagen und dann auf Gonzo. "Gonschorek?"

"Und wenn?"

Sie tippte sich an die Brust. "Dana."

Gonzo zog die Nase hoch. Es war jetzt kurz nach eins, und das Band sollte erst um zwei im Studio sein. Zeit genug, um schon mal einen Teil von Herberts dreihundert Mark auf den Kopf zu hauen. "Wieviel?"

Dana drängte sich an ihn, ihre Hand schob sich zwischen Gonzos Beine. "Starker Mann. Hundert, französisch."

"Njet."

"Fünfzig?"

"Zwanzig."

Sie fing an, auf polnisch zu schimpfen.

"Dreißig", meinte Gonzo.

Sie hörte auf zu schimpfen.

"Steig ein."

Im Wagen bediente sie sich sofort von den Zigaretten, die der WDR-Typ auf der Ablage vergessen hatte. Der Rauch stach Gonzo in der Nase. Aus dem Funkgerät quäkten leise die Routinemeldungen der Polizei. Gonzo schaltete den Scanner aus. Er fuhr unter der Bahnhofsbrücke hindurch, bog hinter der ehemaligen Camera am Kaiserhof ein paar mal links und rechts ab und erreichte den Verschiebebahnhof. Von hier waren es nicht mal vier Minuten bis zu dem großen Zeitungskomplex in dessen Innenhof das Studio lag. Gonzo kippte den Sitz nach hinten. Dana warf einen Blick auf die Kameras in ihrer Halterungen.

"Video?"

"Video", bestätigte Gonzo und holte seine Brieftasche heraus. Er drückte ihr einen Zehner und einen Zwanziger in die Hand.

"Dziekuje."

"Wohl knapp bei Kasse, Mädchen?" Er machte seine Hose auf. Ihr Blick hing immer noch an den Videokameras, während sie ihn mit der Hand massierte. Schließlich sah sie auf Gonzo herunter, ließ ihn los und kramte in ihrer Handtasche. Gonzo schloß die Augen und kämpfte gegen den Niesreiz, der ihm in der Nase kribbelte. Dana ließ mit dem Kondom auf sich warten, und als Gonzo die Augen wieder aufschlug, sah er gerade noch, wie sie die Reizgaspatrone auf sein Gesicht richtete. Gonzo warf sich zur Seite, so daß die Ladung an ihm vorbeiging. Dana hatte sich ein Taschentuch vors Gesicht gepreßt; sie hing über ihm und zerrte hinten den kleinen Camcorder aus der Halterung, den Gonzo immer als Reserve mitnahm. Gonzo schmiss; sich gegen die Tür. Verriegelt, sein verdammter Sicherheitstick. Das Reizgas fraß sich in seine Lungen. Dana lag jetzt schon auf ihm; die große Suzie war auf die Schaumgummimatte gefallen, und endlich bekam sie den Camcorder los. Gonzo bäumte sich auf. Sie drehte sich und verpaßte ihm das restliche Gas. Er versuchte auszuweichen und knallte mit dem Kopf gegen den Seitenholm. Sterne tanzten vor seinen Augen. "Luder!" röchelte er und versuchte, sie an ihrer Lederjacke festzuhalten.

Dana riß den Camcorder fluchend an sich. Genau wie Gonzo kriegte sie kaum noch Luft. Dann schaffte sie es, die Tür auf ihrer Seite aufzumachen. Sie fiel fast aus dem Wagen, taumelte, kniete ein paar Sekunden hustend und würgend neben dem Kotflügel und kam schließlich torkelnd auf die Beine.

Gonzo schnappte nach Luft und kroch aus dem Fahrzeug. Dana lief gerade los, den Camcorder vor die Brust gepreßt. Gonzo stolperte über seine Hosen, die ihm in den Knien hing. Er wollte sich am Kotflügel festhalten, hatte dann aber ein paar Koordinationsprobleme und ging zu Boden.

"Dich pack ich noch, du Aas!" Trotz der tränenden Augen bekam er das Bild einigermaßen scharf. Er sah Dana am Ladeschuppen vorbei zur Straßenkreuzung rennen. Ein dunkler BMW konnte ihr gerade noch mit quietschenden Reifen ausweichen.

Gonzo zog sich an der Stoßstange hoch, arbeitete sich über den Kühlergrill zur Motorhaube vor und lehnte sich schließlich benommen gegen den Wagen. Nach einer Weile raffte er seine Hose hoch. Dann schlich er um den Kombi herum, riß Türen und Heckklappe auf und wartete, daß das Gas aus dem Innenraum abzog.

Auszug aus:

Karr & Wehner: Geierfühling. Zürich: Haffmans-Verlag 1994.

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